Die Kunst Olga Stozhars, ihres Projekts „They are Looking at Us" – es ist dem Andenken Elie Wiesels gewidmet - wird ein wesentlicher Bestandteil zur Festigung der nicht ganz ungefährdeten Demokratie in Deutschland sein. Den riedenspreisträgern des Deutschen Buchhandels, Aleida und Jan Assmann ist in diesem Zusammehhang eine nterscheidung zu verdanken, die zunehmends an Aktualität gewinnt: der Unterscheidung zwischen dem „kommunikativen Gedächtnis" von Zeitgenossen und Zeitzeugen hier sowie dem symbolisch kodierten „kulturellen Gedächtnis" der Nachgeborenen dort.
Die Kunst, das Projekt Olga Stozhars stellt einen wesentlichen Teil jener für die deutsche Demokratie unerlässlichen Erinnerungskultur dar, die dieses Land, Deutschland, mit dem Schwinden der letzten Zeitzeugen an die Greuel des Nationalsozialismus benötigt. Es geht in diesem Projekt um die Würde der von Nationalsozialisten ermordeten Jüdinnen und Juden und damit der Würde des Menschen, wie sie im Grundgesetz, der Basis der deutschen Demokratie
postuliert wird.
So gilt in der deutschen Verfassung, genauer gesagt in deren Artikel 1, die „Würde des Menschen" als Kriterium aller Gesetzgebung und aller staatlichen Machtausübung. Es war die kosmopolitische Philosophie der Aufklärung, zumal Immanuel Kants, die dem zugrunde liegt: So postuliert Kant in der Metaphysik der Sitten: „Nach diesem Prinzip ist der Mensch sowohl sich selbst als andern Zweck und es ist nicht genug, dass er weder sich selbst noch andere bloß als Mittel zu brauchen befugt ist, sondern den Menschen überhaupt sich zum Zwecke zu machen, ist des Menschen Pflicht."
Einen Menschen als Zweck seiner selbst zu betrachten, bedeutet, ihn in mindestens drei wesentlichen Dimensionen nicht nur zur Kenntnis zu nehmen, zu tolerieren, sondern auch anzuerkennen, d.h. nicht nur hinzunehmen, sondern zu bejahen in der Dimension körperlicher Integrität, personaler Identität und soziokultureller Zugehörigkeit. Dieser Anerkennung korrespondiert ein Demütigungsverbot. Das Demütigungsverbot aber bezieht sich auf die „Würde" eines Menschen. Diese „Würde" eines Menschen ist der äußere Ausdruck seiner Selbstachtung und die Würde ist die Summe aller Verhaltensweisen, die bezeugen, dass ein Mensch sich selbst tatsächlich achtet. Diese Selbstachtung wird verletzt, wenn Menschen die Kontrolle über ihren Körper genommen wird, sie als die Person, die sie sprechend und handelnd sind, nicht beachtet oder ernst genommen bzw. wenn die Gruppen oder sozialen Kontexte, denen sie entstammen, herabgesetzt oder verächtlich gemacht werden. Die Verletzung dieser Grenzen drückt sich bei den Opfern von Demütigungshandlungen als Scham aus.
In des italienisch-jüdischen Chemikers Primo Levi nüchternem Bericht über seine Lagerhaft in Auschwitz wird den Erfahrungen absoluter Entwürdigung Rechnung getragen. „Mensch ist„ so notiert Levi für den 26 Januar 1944, einen Tag vor der Befreiung des Lagers „wer tötet, wer Unrecht zufügt oder erleidet; kein Mensch ist, wer jede Zurückhaltung verloren hat und sein Bett mit einem Leichnam teilt. Und wer darauf gewartet hat, bis sein Nachbar mit Sterben zu Ende ist, damit er ihm ein Viertel Brot abnehmen kann, der ist, wenngleich ohne Schuld, vom Vorbild des denkenden Menschen weiter entfernt als ... der grausamste Sadist."
STOZHARS PROJEKT „THEY ARE LOOKING AT US"
Die Kunst Stozhars, ihr Projekt bringt eben diese Intuitionen Primo Levis in anderer Weise zum Ausdruck: nicht, indem sie die Entwürdigung der Opfer ins Bild setzt, sondern dadurch, dass sie den Opfern ihr Gesicht zurückgibt – im wahrsten Sinne des Wortes: Indem Olga Stozhar sich an in mühsamster Kleinarbeit erschlossenen Photographien von Opfern orientiert und diesen Photographien durch ihre Zeichenkunst eine Ausdrucksstärke sondergleichen verleiht und indem sie darauf besteht, dass tatsächlich Tausende dieser kunstvollen Bleistiftzeichnungen gezeigt werden – um auf die unermessliche Anzahl hingemordeter Individualitäten hinzuweisen - wird die zugleich einem Postulat gerecht, dem wiederum der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas – er überlebte den Nationalsozialismus durch Zufall – seinen unübertroffenen philosophischen Ausdruck gegeben hat: Das Antlitz der Anderen, ja das Antlitz der Leiden der anderen, ist zugleich jene Spur, die uns zu Gott und seiner Weisung hinführt: Du sollst nicht töten!
Das Projekt Olga Stozhars „ They are Looking at Us" ist exakt die künstlerische Umsetzung dieses Postulats und deshalb in einer Zeit des Übergangs vom kommunikativen Gedächtnis der Zeitzeugen ins kulturelle Gedächtnis der Nachgeborenen unerlässlich.
Prof. Dr. Micha Brumlik