PROJEKT "THEY ARE LOOKING AT US"

'If anything can, it is memory that will save humanity'   Elie Wiesel

Seit mehr als vier Jahren arbeite ich an dem umfangreichen Projekt "They are Looking at Us". Inzwischen sind über 4500 Porträts (Zeichnungen, Kugelschreiber auf Papier, 42 x 30 cm) entstanden. Jedes Porträt basiert auf Archivfotos von Opfern des Holocausts und der NS-Verfolgung. Für mich ist es wichtig, diese Gesichter mit der eigenen Hand nachzubilden, sie zu "erfühlen" und damit wieder lebendig zu machen und auch auf das Ausmaß der Tragödie hinzuweisen. Die Porträtierten werden "enface" oder im Profil gezeigt. Manchmal sind die Gesichter angeschnitten, was das Gefühl der Nähe zu uns verstärkt. Einige der Dargestellten sind mit Namen bekannt. Andere sind anonym, ihr genaues Schicksal unbekannt. Ich zeichne Menschen jeden Alters und jeder sozialen Herkunft, aber meine besondere Aufmerksamkeit gilt den Kindern.

Ich versuche, das fotografische Dokument als Impuls für meine Phantasie zu nutzen, um einer lebenden Person zu begegnen und sie mit allen Facetten des Lebens und der liebevollen Zuneigung zu umarmen. Ich schaue die Personen gebannt an und sie schauen auf mich zurück. Die Augen sind das Zentrum der Porträts. Ich studiere genau ihre Ausstrahlung, sehe Menschen voller Leben und Liebe: eine Mutter mit ihrer Tochter und ihrem Sohn, eine Großfamilie, ein Bräutigam mit einer Braut. Eine Mutter schaut stolz auf ihre schöne Tochter, ein erwachsener Sohn umarmt seine Mutter. Manchmal ein Lächeln im Gesicht, manchmal wird es von der Sonne angestrahlt ... Glückliche Momente im Leben dieser Menschen wurden auf den Fotos festgehalten, bevor die Massenverfolgung begann, die in der Vernichtung endete. In den Fotos aus den Konzentrationslagern sieht und fühlt man, was nicht in Worten auszudrücken oder zu verstehen ist. Das Bewusstsein kann diese Unmöglichkeit zu verstehen, nicht überwinden. Wie konnte so etwas geschehen? Zu welch monströsen Taten haben sich Menschen auf der einen Seite ermächtigt... Auf der anderen Seite: Schreie, Verzweiflung, das Stöhnen der Mütter. Und schreckliche Stille. Und weiter nichts... Er sieht mich an. Sie sieht mich an. Sie schauen mich an. Sie schauen uns an.

Die Linie ist eine Fortsetzung meiner Hand und meines Gefühls und meiner Verzweiflung und meiner Tränen und meiner Unfähigkeit zu verstehen. Die Linie spiegelt meine Gefühle wider. Manchmal schlägt die Linie ekstatische Striche; manchmal erzeugt die Linie die Dichte von Klängen, die je nach Gefühlen unterschiedlich sind. Manchmal schneidet die Linie entlang der Leerstellen, die als Freiräume übrig bleiben. Manchmal schlägt die Linie Rhythmen, die das Gesicht als offenes Feld des Lebens mit einer großen Bandbreite an Emotionen darstellen. Und oft ist das Gesicht mit weichen, kreisenden Bewegungen der Linie aufgebaut, mit einem Akzent auf den Augen, um eine Dynamik im Kontakt mit dem Betrachter zu erreichen.

Mein Ziel ist es, mit künstlerischen Mitteln die innere Welt eines Menschen und das Spektrum seiner Gefühle wiederzugeben. Während ich an den Porträts arbeite, spüre ich die Verzweiflung, die diese Menschen ergriffen hat, und gleichzeitig kommt den Schmerz hoch, dass wir sie verloren haben. Ich werde von Fragen gequält, auf die es keine Antwort gibt: Wie konnte das möglich sein? Ich hoffe, dass das starke Gefühl, das ich während des Arbeitsprozesses habe, auch vom Betrachter erlebt wird und dass diese Gefühle auch seine Gedanken in Bezug auf die Frage des Menschlichen bewegen.

Der Mensch ist das Wichtigste und daher eine Gleichgültigkeit in menschlichen Lebensangelegenheiten das größte Übel. Der Mensch ist weder Maschine, noch Bestie - er ist frei und zur Liebe geboren. Was drängt ihn später zum Hass, zur Versklavung anderer Menschen?

Die Augen sind der Mittelpunkt eines jeden Bildes. Ihr Ausdruck ist das Herzstück des Projekts. Es geht nicht um Anklage oder Verurteilung, sondern um die emotionalen Verbindungen, die im visuellen Dialog mit dem Betrachter entstehen. Die Menschlichkeit dieser Menschen in all ihrer Komplexität, Widersprüchlichkeit und Verletzlichkeit lebt in diesen Porträts und berührt diejenigen, die sie sehen.

Jeder Mensch ist einzigartig. Jeder Mensch hat einen Eigenwert und seine Möglichkeiten. Das wichtige Ziel des Projekts ist, dass die Augen der porträtierten Opfer des Holocausts den Augen der zukünftigen Generationen begegnen und mit ihnen kommunizieren. Die Augen dieser Menschen sprechen. Durch die Augen der Porträtierten sollen die Zuschauer das ganze Spektrum der Emotionen dieser Menschen und den Schmerz darüber, dass wir sie verloren haben, spüren.

Nicht nur das einzelne Porträt, auch die Vielzahl an Gesichtern, die ich zeichne, verleiht dem Projekt eine intensive Atmosphäre. Das Ergebnis ist eine beunruhigende, emotionale Installation, die den Menschen, deren Leben verkürzt wurde, Tribut zollt und die Lebenden an jede ihrer Existenzen erinnert.

Ich glaube, dass es gerade jetzt notwendig ist, sich an diejenigen zu erinnern, die wir verloren haben, und die Trauer über diesen Verlust zu spüren. Die Menschen wollen die Vergangenheit vergessen. Sie wollen eine bequeme Existenz, die das Beunruhigende und die Gefährdungen wegdrängt. Dies ist die Basis für Gleichgültigkeit. Gemeinsam mit dem Holocaust-Überlebenden und Schriftsteller Elie Wiesel bin ich davon überzeugt, dass allein die Erinnerung Hilfe für die Zukunft bringen wird. Gleichgültigkeit macht Ausgrenzung und Missbrauch möglich. Unmenschlichkeit, Hass und mangelndes Mitgefühl entstehen aus Ignoranz und Apathie. Die moderne Gesellschaft fördert oft falsche Werte und bietet Härte und Brutalität als Mittel zum Erfolg an. Dies hat sich jedoch als Weg zu Zerstörung und Gewalt herausgestellt. Und das Wichtigste ist genau das Gegenteil - Menschlichkeit, Liebe und Wärme zwischen den Menschen.

Gegenwärtig ist ein Wiederaufleben von Nationalismus, Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus zu spüren. Angst, Gewalt und Gleichgültigkeit gegenüber der Notlage Anderer werden häufiger. Deshalb ist das Projekt "Sie schauen auf uns" nicht nur ein Appell und eine Mahnung. Vielmehr will es den Respekt vor der Würde eines jeden Menschen fördern und seine Tatkraft stärken.

Das Projekt will Kontakt herstellen, es will Empathie erzeugen, es will Gefühle erzeugen - damit wir alle uns in den Augen, in den Blicken, in den Gesichtern, die uns ansehen, selbst wiedererkennen. Menschen mit Sehnsüchten und Ängsten, mit Abneigungen und Sympathien, Menschen voller Liebe.

"Es ist geschehen, also kann es wieder geschehen: das ist ein Kern dessen, was wir zu sagen haben". Das schrieb der Holocaust-Überlebende und Schriftsteller Primo Levi. Die Erinnerung an den Holocaust soll also eine Warnung sein, dass Nationalismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit erhebliche Folgen haben können.

Das Projekt will den Holocaust nicht distanziert, sondern durch eine emotionale Kontaktaufnahme angehen. Wenn die Augen des Betrachters auf die Augen dieser Menschen treffen - Worte sind nicht mehr nötig. Das Projekt "They are Looking at Us" ist auf Gefühlen aufgebaut und ich hoffe, dass die Gefühle, die ich beim Entstehen dieser Porträts durchlebe, von den Menschen, die sie sehen, auch erlebt werden können.

Olga Stozhar

© by Olga Stozhar